ZILTENDORF gestern & heute
Ortschronik der Gemeinde Ziltendorf
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Fremde Brüder Aurith und Urad trennt nur die Oder – aber eine Brücke will das deutsche Dorf nicht

AURITH/URAD (POLEN) Wie sie so hinter dem Deich kauern, wirken sie fast wie schüchterne Verwandte, die sich Jahrzehnte nicht getroffen haben. Aurith (Oder-Spree) und Urad, zwei Dörfer im Oderbruch, getrennt nur durch den Fluss. Wenn auf der einen Seite Dorffest ist, hören die anderen die Musik. Doch die Aurither haben keine Lust auf ein Familientreffen. In den beiden Kneipen der 50-Seelen-Gemeinde liegen Unterschriftenlisten aus. „Wir, die Bürger, sind gegen den Bau einer Oderbrücke bei oder in Aurith“, heißt es auf den gelben, mit dem Schattenriss eines Bibers illustrierten Handzetteln an der Theke. 5000 Menschen haben sich eingetragen. Einheimische, Sachsen und Mexikaner, Fahrradtouristen und Skater. Sie alle wollen das von Verkehrsminister Hartmut Meyer (SPD) befürwortete Projekt zu Fall bringen. Aurith soll Biotop bleiben. Und wird es eventuell auch: Der „Planungskorridor“ für die neue Anbindung nach Polen wurde auf einer Konferenz Mitte August einige Kilometer Richtung Eisenhüttenstadt verschoben.

Es gehört zu den Widersprüchen in einem Zeitalter der Öffnung nach Osten, dass viele deutsche Gemeinden keinen Grenzübergang vor ihrer Tür haben wollen – während die Polen sich geradezu darum balgen. Wenige Monate vor dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union ist zumindest im Grenzgebiet vom Pathos des historischen Ereignisses nichts mehr übrig. Argwöhnisch schaut man über die Oder. Und um Biber geht es dabei oft nur vordergründig.

Ein Schnitzel kostet drüben nur die Hälfte

„Ich habe mit meiner Frau ausgemacht: Wenn der Grenzübergang hier gebaut wird, verkaufe ich den Laden“, sagt Heinz Blümel. Der Wirt des Gasthauses „Zur Alten Fähre“ gibt eigentlich nicht leicht auf. Er ist sozusagen das widerständige Gesicht des Ortes. Sein Bild ging 1997 durch alle Zeitungen: Wie er mit stoischer Miene während des Oderhochwassers hinter einer Sandsackbarriere Bier ausschenkte, bis der Fluss in die Gaststube lief. Die braune Flut hat ihn nicht vertrieben. Er hat hier Wurzeln geschlagen, wurde im benachbarten Ziltendorf geboren – als Kind von Vertriebenen, wie ein großer Teil der Menschen im Oderbruch. Jetzt aber wähnt Blümel eine neuerliche Naturkatastrophe im Anmarsch: Billige Arbeitskräfte von der anderen Oderseite. „Hier wird niemand mehr zum Essen anhalten. Da kann ich aus dem Laden ja nur noch einen Puff machen“, sagt Blümel. Ein Schnitzel mit Kroketten brät der Pole eben für die Hälfte.

Ein alter Kater hat sich auf einem Stuhl auf der Terrasse zusammengerollt. „Polen-Paule“ ruft ihn sein Herrchen. Das Hochwasser hatte ihn herüber geschwemmt und das Tier harrte tagelang auf dem Gaststättendach aus. Jetzt führt der Fluss Niedrigwasser. Ein paar polnische Jungs waten regelmäßig mit Zigarettenstangen unter dem Arm ans deutsche Ufer und versorgen die Dorfbewohner mit Rauchwaren. „Manche machen sich einen Spaß daraus und schicken sie noch einmal durch den Fluss, weil sie angeblich nicht die richtige Marke dabei haben“, erzählt Blümel. Ein grenzüblicher Handel: Demütigung gegen schnelles Geld.

Daniel und Bogislaw wissen, wie tief die Oder ist. Daniel deutet mit der flachen Hand an sein Brustbein. Wie oft sie schon drüben in Deutschland waren? Zehnmal mindestens. Sie ist nicht gerade hermetisch abgedichtet, diese Grenze. Die Polen sind längst im Land. Denn 17-Jährige sind auf keine Brücke angewiesen, auch wenn sie die Passage erleichtern würde.

In Urad findet sich niemand, der den Übergang nicht wünscht. Die Gegend ist arm. Die Menschen im Lebuser Land verdienen im Monat 507 Euro brutto – rund 90 weniger als im Landesdurchschnitt. „Die Region gilt als relativ unterentwickelt – strukturell vergleichbar mit Mecklenburg-Vorpommern“, sagt Thomasz Kalinowski, polnischer Botschaftsrat in Berlin. Randgebiete werden im zentralistischen Polen nicht gerade verwöhnt.

Ein Brückenfest wird es nicht geben

Man sieht es Urad an. Bis auf die Hauptstraße sind alle Wege Sandpisten. In den Hofeinfahrten stehen verstaubte Trabants. Die Fahrräder der Jungs haben weder Gangschaltung, noch Schutzbleche, sind aus irgendwelchen Wracks zusammengeschraubt. Kaum ein Haus ist in Schuss, die alten deutschen Ziegelbauten genau so wenig wie die paar kurz nach dem Krieg hochgezogenen Landarbeiterbehausungen für die Vertriebenen aus den von Stalin besetzten Ostgebieten Polens. Nur ein Bauwerk sticht – kanariengelb gestrichen – ins Auge: Säulenportikus, Lackziegel und eine Bulldogge vor der Tür. Das Weiße Haus in Washington stand wohl Pate. Ein Zöllner hat sich das pompöse Anwesen zugelegt. Alles in bar bezahlt, munkelt man im Dorf. Die Grenze macht’s möglich.

Erst sah es aus, als bekäme Urad den Zuschlag. Die Fernstraße von Slubice nach Krosno (Krossen) führt direkt am Ort vorbei. Eine ideale Verbindung. Doch die Nachbarorte Kunice und Klopot kämpfen ebenfalls um einen Direktanschluss nach Europa. Und weil die Standortentscheidung letztlich doch von den finanzkräftigeren Deutschen abhängt, ist die Ablehnung der Aurither in Urad nicht gerade als hilfreich empfunden worden.

Neugierig auf die Nachbarn hinter dem Deich ist Anna Maria Kapica dennoch. „Ich würde gern wissen, wie Aurith aussieht“, sagt die Gartenbau-Studentin mit dem „Love & Peace“-T-Shirt. In deutschen Geschäften möchte sie einkaufen, vielleicht Freundschaften knüpfen. Gute Erfahrungen mit deutschen Gemeinden hat man in Urad auch schon gemacht: Die Ziltendorfer Feuerwehr schenkte den Polen ihr Robur-Spritzenfahrzeug aus DDR-Tagen, weil sie einen Mercedes bekommen hatte und in Urad nur ein schrottreifer Oldtimer Dienst tat.

In Aurith feiert man hingegen den Etappensieg gegen den Übergang – und kein Brückenfest. „Wir haben uns gewehrt – Danke an alle!“, verkündet die Homepage des Ortes. Ob wirklich die Biber-Freunde den Ausschlag gegeben haben, ist fraglich. Das Eko-Stahlwerk in Eisenhüttenstadt soll auf einen Grenzübergang näher an Eisenhüttenstadt bestehen. Ein gewichtiges Argument. Unweit des Ortes Vogelsang soll die Trasse verlaufen. Ob die Idee dort begeistert aufgenommen wird? Ein ortsansässiger Unternehmer jedenfalls will sich „erstmal zwei große Hunde anschaffen“.

ULRICH WANGEMANN – MÄRKISCHE ALLGEMEINE 24. September 2003

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